Dienstag, 30. September 2014Von der Angst zur GelassenheitEin Vortrag von Renate Borner am 07.11.2009 zum 2. Tag der Chinesischen Medizin in der Samuel-Hahnemann-Schule Von der Angst zur Gelassenheit In diesem Vortrag möchte ich mich mit dem großen Thema der Angst befassen, ein Gefühl dass ganz sicher jeder von Ihnen in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen kennt. Ängste haben in erster Linie einen Bezug zu den Nieren, sie sind die Emotion der Wandlungsphase Wasser. Zum Thema Angst gehört auch der Wille, der nach der chinesischen Medizin ebenfalls in den Nieren beheimatet ist und die Gelassenheit. Sie eine Tugend des Wassers und die Erlösung von der Angst. Auch zu jedem anderen Yin-Organ gehört eine Emotion, zur Leber die Wut, zum Herzen die Freude, zur Milz die Sorge, zur Lunge die Trauer. Die Emotionen entstehen in diesen Organen und bringen das Wesen ihres Organs nach außen. Jedes Gefühl ist notwendig und hat seine Berechtigung. In unserer Gesellschaft wird oft unterschieden in positive und negative Gefühle, wobei v.a. Angst und Wut den negativen Gefühlen zugeordnet werden. Doch auch diese Gefühle sind – wenn wir sie in einem gesunden Maß erleben – für ein ausgeglichenes Gefühlsleben unentbehrlich. Kein Leben kann ohne Angst und Wut gelebt werden. Im Übermaß jedoch schädigen jedoch alle Gefühle ihre zugehörigen Organe und können Krankheiten verursachen. Was hat die Angst nun mit den Nieren zu tun? Die Nieren sind verantwortlich für den Beginn und das Ende des Lebenszyklusses, beim Zeugungsakt erben wir die Nieren-Essenz unserer Eltern, sie ist die Vorraussetzung für unsere Entwicklung im Mutterleib, die Nieren steuern die Fortpflanzungssorgane, die verantwortlich sind für die Aufrechterhaltung der Schwangerschaft und die Geburt. Auch die Weiterentwicklung des Menschen, die Reifung vom Kind, zum Jugendlichen und zur Geschlechtsreife und weiter bis zum Alter und Tod werden von den Nieren gesteuert. Das bedeutet, dass die Überlebensfähigkeit des Menschen und überhaupt der Fortbestand der Menschheit eng mit den Nieren verknüpft ist. Die Nieren-Essenz ist für die Qualität unseres Erbguts verantwortlich, ebenso für unsere Fortpflanzungsfähigkeit. Wie wir heute noch hören werden, haben Sterilitätsprobleme in erster Linie mit der Nieren-Energie zu tun. Das bedeutet, dass die Nieren ganz viel mit dem „nackten Überleben“ zu tun haben, es geht also etwas ganz Essentielles, um die Grundlage unseres Lebens. Somit kann man auch besser die eigentliche Aufgabe der Emotion, die zur Niere gehört – nämlich der Angst – verstehen; Angst dient der Sicherung unseres Lebens. Dies ist die Ur-Funktion der Angst; sie ist das primäre Warnsystem, wenn das Leben in irgendeiner Weise in Gefahr ist. Auch die Ohren, die in bezug zu den Nieren stehen, dienen dieser Aufgabe; die Ohren sind die einzigen Sinnesorgane, die Tag und Nacht aktiv sind, man kann auch im Schlaf seine Ohren nicht abschalten, man hört was um einen herum vorgeht, wird geweckt bei Gefahr. Angst ist absolut notwendig, um unser Leben zu schützen. Häufig geht die Angst jedoch über das gesunde, für unseren Schutz benötigte Maß hinaus, schränkt uns ein und quält uns. Die Angst hat dann nichts mehr mit einer konkreten, augenblicklichen Gefahr zu tun, auf die wir reagieren müssten. Sie macht uns nur ständig angespannt, unruhig, nervös, wir sind dauernd damit beschäftigt, was passieren könnte, nicht mit dem, was gerade geschieht. Wenn die Angst uns beherrscht, sind wir nicht mehr handlungsfähig, fühlen wir uns ständig unter Spannung, wir können uns nicht mehr am Leben freuen und es genießen. Angst ist auch ein schlechter Ratgeber. Entscheidungen, die vor dem Hintergrund von Angst getroffen werden, sind oft nicht wirklich stimmig für uns, bringen uns auf unserem Lebensweg nicht weiter, lassen uns hinter unseren Möglichkeiten zurückbleiben, schränken uns ein. Wenn ein Mensch Angst hat, laufen in seinem Körper eine ganze Reihe von Reaktionen ab, die alle mit dem Funktionskreis Niere-Blase und den ihnen zugeordneten Körperteile zu tun haben. Im Volksmund gibt es zahlreiche Redewendungen, die dies zum Ausdruck bringen: - bei Angst stehen einem die Haare zu Berge - es läuft einem kalt den Rücken herunter - man macht sich vor Angst in die Hose - weiche Knie bekommen - kalte Füße bekommen. Wenn wir der Angst massiv ausgesetzt sind, kann es zu Erkrankungen aller Bereiche des Körpers kommen, die zum Funktionskreis Niere-Blase gehören: Angst kann zu chronischen Blasen- und Nierenerkrankungen führen, bei Kindern z.B. kommt es häufig zu Enuresis, dem Einnässen. Sie kann auch zu Rückenbeschwerden führen, zur Betroffenheit der Knochen, was sich in Wirbelsäulen- oder Kniebeschwerden äußern kann. Auch die Ohren können erkranken bzw. eine chronische Empfindlichkeit aufweisen. Die Zahnsubstanz kann ebenfalls leiden, auch Zahnwurzelprobleme können Ausdruck großer Ängste sein. Auch die Geschlechtsorgane sowie die Fruchtbarkeit können durch Ängste beeinträchtigt werden; bei Männern kommt es häufig zu Potenzstörungen. Das Kopfhaar kann betroffen sein, eine Bekannte von mir bekam am Tag ihrer Scheidung schlagartig weiße Haare. Zu chronischen Beschwerden kommt es natürlich nur, wenn die Angst, über das normale Maß hinausgeht. Jeder Mensch muss in seinem Leben angstvolle Situationen bewältigen. Wenn ihm dies gelingt, führt das auch zu seiner Reifung, gibt ihm Selbstvertrauen. Somit wäre es z.B. völlig falsch, zu versuchen Kinder vor jeder Situation zu bewahren, die Angst erzeugen kann.
Krankmachend sind z.B. Lebenssituationen, wenn man mit gewalttätigen Menschen zusammenlebt, sei es körperliche oder seelische Gewalt; wenn Kinder in extrem ungeborgenen Verhältnissen aufwachsen müssen. Z.B. hatte eine Patientin von mir einen gewalttätigen Vater und sie hatte viel Angst in ihrer Kindheit. Sie litt an chronischen Blasenschmerzen und überwältigender Kälte; sie fror trotz mehrerer Schichten Kleidung und erkältete sich ständig. Angst hat ganz viel mit Kälte zu tun. Kälte ist der bioklimatische Faktor der Wandlungsphase Wasser. Angst blockiert das Yang der Niere, führt zu Kälte, die im Inneren entsteht. Kälte führt zu einer Blockierung des Qi- und Blut-Flusses im Körper, dadurch werden alle energetischen Prozesse des Menschen verlangsamt, und Kälte führt dazu, dass sich die Energie zusammenzieht, dadurch kommt es zu Erstarrung auf körperlicher und seelisch-geistiger Ebene. Wir kennen diese Erstarrungsreaktion beim Bild des Kaninchens vor der Schlange. Es wird starr vor Angst und kann deshalb nicht fliehen. Ein Mensch, der starr vor Angst wird, wird ebenfalls handlungsunfähig. Er ist seiner Angst ausgeliefert und nicht in der Lage zu handeln, um die Situation zu verändern. Solche Menschen machen sich oft klein, ziehen sich zurück, haben wenig Energie und sind frostig, zittern und wirken starr. Sie können nicht die Energie aufbringen, um die Situation, die ihnen Angst macht, zu ändern. Alles erscheint ihnen zu schwierig, zu anstrengend. Dies ist ein klares Bild von Nieren-Yang-Leere. Yang steht für Wärme; ist das Yang in Leere, herrscht Kälte vor, gibt es wenig Aktivität und Bewegung. Hier ist v.a. Moxen, z.B. von Bl 23 (Nieren-Shu-Punkte ), GG 4, KG 4 oder Ni 3 für den Patienten sehr wohltuend. Es gibt allerdings auch noch eine andere Form von Angst, bei der das Nieren-Yin in Leere ist, dadurch kommt es zu einem relativen Überschuß an Yang, also zu Aktivität und nicht zu Kälte, sondern eher zu Wärmegefühlen. Bei diesem Angst-Typ ist der Mensch nicht starr vor Angst und handlungsunfähig, im Gegenteil, er ergreift eher die Flucht, rennt weg oder versucht mit blindem Aktionismus seiner Angst zu begegnen. Er ist nervös, unruhig und die Angst kann sich bis zur Phobien und Panik steigern. Ein Beispiel dafür wären Menschen mit Platzangst oder Flugangst. In diesem Fall sollte man das Nieren-Yin stärken, z.B. mit den Akupunkturpunkten Ni 6, 10, KG 4 oder MP 6, es darf nicht gemoxt werden. Eine Steigerung von Angst und somit besonders schädlich ist der starker Schreck bzw. der Schock. Dieser kann hervorgerufen werden, z.B. durch einen Einbruch, einen Unfall, aber auch z.B. durch plötzliches Verlassenwerden in einer Beziehung oder des plötzlichen Todes einer geliebten Person. Im Gegensatz zur Angst gibt es keine normalen oder positiven Formen des Erschreckens. Schreck ist immer etwas Pathologisches. Der Schock schädigt nicht nur die Nieren, sondern auch das Herz. Er dringt in`s tiefste Innere des Menschen vor, erschüttert ihn „bis in`s Mark (Niere), erschüttert die gesamte Vitalität des Menschen. Auch hier kommt es oft zu großem Kältegefühl, der Mensch kann „starr vor Schreck werden“, es kommt zu einer plötzlichen Abnahme des Yang. Das Herz klopft heftig, der Herz-Geist Shen gerät in Panik und zerstreut sich. Dies kann sich in völlig kopflosem Handeln auswirken, in Abgeschnitten sein von sich selbst. Auch wenn die ersten, gut sichtbaren Auswirkungen eines Schocks wieder vergehen, können Folgen zurückbleiben, so dass der Mensch sich nicht wieder fühlt wie zuvor, nicht mehr in sein Gleichgewicht findet. Neben einer psychologischen Betreuung kann hier die Akupunktur von Nieren- und Herz-stärkenden Punkten eine große Hilfe sein. Punkte, die sich hierbei bewährt haben, sind z.B. Bl 15 + Bl 44 (die sog. Herzlinie), Bl 23 + Bl 52 (Nierenlinie); He 6, 7 und MP 3. Bis jetzt habe ich nur von der schädigenden Wirkung der Angst auf die Nieren gesprochen, es kann natürlich auch der umgekehrte Fall eintreten, nämlich dass ein Mensch mit einer konstitutionell schwachen Nierenenergie zu Ängsten neigt. Dies zeigt sich oft in Lebens- und Zukunftsängsten; der Mensch fühlt sich schwach, nicht lebenstüchtig, den Aufgaben des Lebens nicht gewachsen, einfach weil ihm die Kraft fehlt. Ein Kind, das nachts lange einnässt, muss deshalb nicht unbedingt in einer angstvollen Situation leben, es kann auch einfach sein, dass es konstitutionell eine schwache Nieren-Essenz mitgebracht hat. Es gibt auch Phasen im Leben eines Menschen, in denen die Nierenenergie geschwächt wird, z.B. bei Frauen, die in kurzem Abstand Kinder gebären oder wenn man längere Zeit zu wenig schläft, stark überarbeitet ist oder große körperliche Anstrengungen vollbringen muss (z.B. Leistungssport). Auch dann kann es zu Ängsten kommen bei Menschen, die sonst nicht so stark davon betroffen sind. Es gibt also die Wechselwirkung in beide Richtungen – Angst schädigt die Nieren und eine Nieren-Schwäche führt zu Ängsten. Ängstlichkeit kann also auch eine körperliche Schwächung widerspiegeln, ohne dass sie einen primär emotionalen Grund haben muss. Angst schädigt jedoch nicht nur den Funktionskreis Niere/Blase, über den energetischen Kreislauf der fünf Elemente können auch andere Organe des Körpers können auf Angst reagieren. Dies zeigt sich darin, wo ein Mensch die Angst im Körper spürt bzw. welche Symptome auftreten, z.B. ob er Herzklopfen kriegt, kalten Schweiß auf der Stirn, Atemnot etc. Der Ort, wo man die Angst fühlt, zeigt welches Organsystem betroffen ist, was natürlich für unsere Behandlung sehr wichtig ist. Wenn Angst die Leber schädigt, kommt es zu einer Stagnation der Leber mit den typischen Zeichen, wie z.B. - Spannungsgefühle in den Hypochondrien - Reizbarkeit, unterdrückte Wut, die sich manchmal explosionsartig entlädt - Migräne. Bei dieser Holz-Angst fehlt oft der Mut zu Verteidigung. Angst und Schreck schädigen sehr häufig das Herz. In diesem Fall kann es zu - Herzklopfen - Nervosität - Schlafstörungen kommen. Der Herz-Geist Shen ist in Aufruhr, es herrscht große Aufregung und die Panik ist dem Menschen oft in`s Gesicht geschrieben. Wenn Angst Milz oder Magen schädigt, kann es zu Durchfällen und Blähbauch kommen. Viele Menschen kennen auch das Gefühl von Angst in der Magengrube, es ist oft begleitet von Übelkeit. Bei dieser Erde-Angst kreisen die Gedanken ständig um ein Thema, es kann zu einer zwanghaften Besessenheit von einem Thema und Paranoia (Verfolgungswahn) kommen. Angst und auch Schreck können auch die Lunge schädigen und z.B. Asthma hervorrufen, die Metall-Angst schnürt die Brust zu. In diesen Fällen ist es natürlich wichtig, diese betroffenen Organe mitzubehandeln. Wie ich bereits erwähnte, ist Angst ein wichtiges, notwendiges Gefühl, um uns Gefahren anzuzeigen, damit wir Schutzmaßnahmen ergreifen können. Diese können, je nach Situation unterschiedlich sein; wenn wir z.B. von Gewalt bedroht werden, kann es das Beste sein zu fliehen, manchmal ist es auch besser, sich einer Situation zu stellen, sie zu lösen und dadurch die Angst zu überwinden (z.B. Vorträge halten). Manchmal kann ein Gefühl der Angst einen von einer voreiligen, unklugen Entscheidung abhalten. Dies ist alles keine pathologische Angst. Überflüssig und schädlich ist für uns die Angst, die uns beständig quält ohne uns zu nutzen. Es gibt unzählige Formen dieser Ängste, jeder von Ihnen, und natürlich auch ich, kennt sie; es kann die Angst sein zu versagen, die Angst vor der Zukunft, vor dem Verlassenwerden, vor Armut und Einsamkeit, vor Krankheit und Tod. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Viele Menschen leben aber mit einem Grundgefühl von Angst, die Angst ist ihr ständiger Begleiter. Es geht dann nicht mehr um konkrete Ängste, die Angst ist immerzu im Hintergrund, das ganze Leben wird angstvoll erlebt. Man kann sich vorstellen, dass bei einem solchen Grundgefühl nicht mehr viel Raum für Gelassenheit und Lebensfreude da ist. Was können wir nun tun, wenn wir von Gefühlen der Angst überschwemmt werden? Zum einen können unseren Verstand einsetzen, wir können über die Situation, die uns Angst macht, nachdenken, sie analysieren, uns intellektuell mit ihr auseinandersetzen. Dies ist eine Fähigkeit, die in der chinesischen Medizin dem Organ Milz/Pankreas zugeschrieben wird. Dieses gehört zur Wandlungsphase Erde, welche im energetischen Kreislauf der Elemente die Aufgabe hat, das Wasser und damit die Angst zu kontrollieren. Mit dieser analytischen Fähigkeit kann man sich die Situation näher anschauen, klarer sehen und überlegen, wie sie zu bewältigen ist. Bei Ängsten stelle ich meinen Patienten gerne die Frage: „Was wäre das Schlimmste, was Ihnen in der jeweiligen Situation passieren könnte?“ Dies ist dann etwas Konkretes, mit dem man sich auseinandersetzen kann, für das man realistische Lösungsmöglichkeiten suchen kann. Angst hat viel mit einem diffusen Gefühl des haltlosen Fallens zu tun. Wenn man sich vorstellt, dass man schon nach dem Fall aufgekommen ist, also wieder die Erde erreicht hat, ist es leichter zu überlegen, wie wäre die Situation dann, was könnte man tun. Dies ist eine Möglichkeit, wenn die Angst noch nicht zu stark ist. Doch jeder von uns kennt Situationen, wo alle Vernunft nichts mehr nutzt und das Angstgefühl einfach zu stark ist. Eine weitere Möglichkeit, Angstgefühlen zu begegnen liegt in der Willenskraft. Der Wille ebenfalls den Nieren zugeschrieben, er ist der natürliche Gegenspieler der Angst. Die Angst setzt dem Willen Grenzen, der Wille hält die Angst unter Kontrolle, er strebt immer danach, die Grenzen, die die Angst gesetzt hat, zu erweitern. Es sollte immer eine Balance zwischen Angst und Willen bestehen. Der Wille ist expansiv – die Energierichtung geht nach außen, die Angst kontrahiert – die Energie zieht sich ins Innere zurück. Der Wille hilft dem Menschen, seine Handlungen so auszurichten, dass er seine angestrebten Ziele erreichen kann. Wenn wir Angst vor einer Situation haben – zum Beispiel wenn wir Jemanden unsere Meinung sagen möchten – würden wir uns dieser Situation nie stellen, wenn wir nicht unsere Willenskraft hätten, die der Angst etwas entgegensetzt. Der Wille kann uns helfen, unsere Potentiale und Lebensziele zu verwirklichen. Menschen mit einer schwachen Nierenenergie fühlen sich insgesamt schwach, dem Leben nicht gewachsen. Ihr Willen ist auch oft zu schwach, um das, was sie im Leben eigentlich gerne realisieren würden, auch zu tun; der Wille kann die Angst dann nicht überwinden. Dies wird von den Menschen als sehr frustrierend empfunden. Es führt auch in einen Teufelskreis, der Mensch hat nicht die Energie, die Lage zu ändern. Könnte er die Angst überwinden, könnte er vielleicht erleben, dass er der Situationen sehr wohl gewachsen ist. Wenn man solche angstbesetzten Situationen wiederholt gemeistert hat, schrumpft auch die Angst. Diese Erfahrung wird auch in der Verhaltenstherapie genutzt, in der Menschen sich mit Unterstützung in angstbesetzte Situationen begeben sollen, um ihre Angst zu überwinden. Wenn man den Willen näher betrachtet, gibt es eine sehr wichtige Differenzierung, die eng verknüpft ist mit den Grundlagen des Taoismus, der jahrtausende alten chinesischen Lebensphilosophie (der Taoismus basiert auf den Lehren von Laotse (ca. 6. Jh. v.Chr.), er ist keine Religion, seine Erkenntnisse basieren auf genauen Beobachtungen der Natur und der Lebenszusammenhänge auf der Welt). Die Willenskraft beinhaltet einen Yang-Aspekt und einen Yin-Aspekt. Beim Yang-Willen geht es um ein aktives Wollen und aktives Umsetzen. Diese Yang-Kraft nutzen wir sowohl für die alltäglichen Dinge, die wir umsetzen wollen, als auch für langfristige, große Lebensziele. Bei den langfristigen Zielen wird noch mehr Willensenergie benötigt, um sich trotz Widrigkeiten und Rückschlägen nicht von seinem Weg abbringen zu lassen, um weiter an seinen Zielen dran zu bleiben. Der Yang-Anteil des Willens orientiert sich also an den konkreten Zielen, die wir erreichen und durchsetzen wollen. Diese sind eng mit unseren eigenen, persönlichen Interessen verknüpft. In psychologischen Termini ausgedrückt, dient der Yang-Wille dem Ich-bezogenen Bewusstsein bzw. dem Ego. Mit seiner Hilfe versuchen wir, eine Situation unter Kontrolle zu bringen, um unserem Ego Vorteile und Sicherheit zu bieten. Dies ist das Selbstverständnis des Willens, das in der westlichen Welt vorherrscht. Der Yang-Aspekt des Willens ist eng mit dem Ehrgeiz gekoppelt. Ehrgeiz ist eine Eigenschaft, die sehr unterschiedlich bewertet wird. Ich denke, auch hier kommt es wieder auf das Maß an; hat ein Mensch überhaupt keinen Ehrgeiz, wird es oft schwierig sein, Ziele umzusetzen. Ist unser Handeln und Streben zu sehr von Ehrgeiz geprägt, sind wir von Ehrgeiz zerfressen, gehen wir oft weit über unsere Kräfte hinaus.Wir nehmen weder Rücksicht auf uns noch auf andere, sind wir ständig in Eile und Hast, um noch mehr zu leisten, um unsere – für unsere realen Leistungskapazitäten - oft zu hoch gesteckten Ziele zu erreichen. Es gibt in unserer Gesellschaft viele Menschen, die so leben; sie überfordern sich ständig; sie arbeiten pausenlos, vernachlässigen alle anderen wichtigen Dinge des Lebens, ihre Familie, ihren Freundeskreis, Ihre Gesundheit, etc., opfern alles ihrem beruflichen Erfolg, ihrem Ansehen, dem Geldverdienen. Wenn man nachforscht, wie es denn zu diesen übermäßig hoch gesteckten Zielen kam, kommt oft zum Vorschein, dass es sich dabei meist nicht um eigene Herzenswünsche handelt. Oft stecken andere Dinge dahinter, wie z.B. die Erwartungshaltungen der Eltern, der Versuch zu beweisen, dass man doch was taugt, etc. Ein Beispiel ist eine junge Frau, die in ihrer Kindheit ständig von ihrem Vater abgewertet wurde, es wurde ihr prophezeit, dass sie es im Leben zu nichts bringen würde. Diese Frau ist heute sehr ehrgeizig, sehr erfolgreich in ihrem Beruf, beutet sich und ihre Gesundheit gnadenlos aus und peitscht sich immer zu noch höheren Leistungen. Eine solche Lebensweise kann schließlich zu einer Erschöpfung unseres Nieren-Yin bzw. unserer Nieren-Essenz führen, was sich z.B. in Tinnitus, Hörsturz, hohem Blutdruck, bis hin zum Burnout oder Herzinfarkt zeigen kann. Beim Yin-Aspekt des Willens geht es um das, was im Taoismus Wu Wei – das Nicht-Wollen oder das Nicht-Handeln genannt wird. Damit ist keineswegs Passivität, Trägheit oder Entschlusslosigkeit gemeint. Was genau mit Wu Wei gemeint ist, lässt sich schwer in wenigen Worten erklären. Ich möchte dennoch versuchen, Ihnen wenigstens einen Eindruck davon zu geben, weil das Leben mit dieser Haltung eine sehr wirkungsvolle Möglichkeit ist, angstfreier zu werden. Wu wei bedeutet, sich dem Tao anzuvertrauen, oder anders gesagt, sich dem natürlichen Lebensstrom hinzugeben, nicht versuchen müssen, das Leben in jeder Sekunde krampfhaft zu kontrollieren. So zu leben führt zu tiefer, innerer Gelassenheit, der Tugend des Wassers. Schon das Wort Ge-lassen-heit impliziert das Lassen, das Nicht-Handeln-müssen. Jeder Mensch, der sich bewusst damit beschäftigt, kann Gelassenheit erlangen. Wu Wei ist der Teil des Willens, der nicht der Ich-Bezogenheit bzw. dem Ego entspringt. Doch woher kommt er dann? Er entspringt einer tieferen Schicht des Menschen als das Ego, welches eng an den Verstand gekoppelt ist. Man kann diese Schicht die innere Stimme des Menschen, die Stimme seiner Seele oder auch sein höheres Selbst nennen. Wu wei bedeutet, dass man nicht gegen diese innere Autorität, man kann auch sagen, nicht gegen das Tao, handeln soll. Normalerweise versuchen wir, Herausforderungen unseres Lebens mit unserem Verstand und unseren Erfahrungen, die wir gemacht haben, zu begegnen. Wir grübeln oft stundenlang über unsere Probleme nach, drehen uns im Kreis und forschen nach Lösungen. Die Entscheidungen, die wir auf diese Weise treffen, stellen sich auf längere Sicht oft als unbefriedigend und falsch heraus, sie entsprechen uns nicht in unserer Gesamtheit. Ich höre oft von Menschen Sätze wie „ich hatte schon so ein Gefühl, dass die Entscheidung falsch ist, habe aber nicht darauf gehört.“ Sie haben sich nicht getraut, auf ihre innere Stimme zu hören. Wenn man mit einem Problem konfrontiert ist, reicht es völlig aus, sich das Problem genau anzusehen, ohne darüber nachzugrübeln. Sobald unser aktives Eingreifen wirklich nötig ist, empfangen wir - wenn wir dafür offen sind - einen spontanen Handlungsanstoß durch eine kräftige Intuition. Dann ist der richtige Zeitpunkt, aktiv in das Geschehen einzugreifen, und zwar mit viel mehr Kraft, als wenn wir unsere Energie schon zuvor mit unnötigem Grübeln und Ängsten verschwendet hätten. Vorraussetzung dafür ist, auf diese innere Stimme zu lauschen, dass man sie willkommen heißt, ihr vertraut. Diese innere Stimme gibt es in jedem Menschen, man kann sie aber nur vernehmen, wenn man ihr Zeit und Raum lässt, wenn man äußerlich und innerlich still ist. Man muss dazu ganz und gar im gegenwärtigen Moment sein, nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Dies ist etwas, was ganz viele Menschen gar nicht mehr kennen. Ein alter Weiser in China drückte das Leben in der Gegenwart einmal so aus: „Wenn ich esse, dann esse ich, wenn ich trinke, dann trinke ich, wenn ich schlafe, dann schlafe ich.“ Das hört sich sehr einfach an, ist es aber nicht. Wenn Sie mal darauf achten, werden Sie feststellen, dass es nur selten Momente gibt, in denen Sie wirklich frei von Gedanken sind. Das Denken führt uns immer weg von der direkten Gegenwart in die Vergangenheit oder in die Zukunft, und sei es nur um die Differenz von Sekundenbruchteilen, wenn wir ein unmittelbares Erlebnis interpretieren, statt es einfach direkt zu erfahren. Dies ist vergleichbar damit, wenn Sie durch eine wunderschöne Landschaft gehen, und diese ständig nur photographieren anstatt sie direkt auf sich wirken lassen. Sie sind dann nicht im Hier und Jetzt. Diese Zeitlücke zum jetzigen Augenblick, lässt es zu, dass Angst entstehen kann. Auf den gegenwärtigen Moment kann man immer konkret reagieren, aber man kann nicht mit etwas fertig werden, was nur eine Projektion des Verstandes ist. Nichts anderes ist die Zukunft, die wir uns vorstellen. Diese hat nichts mit der Realität zu tun, unser Verstand orientiert sich an unseren gemachten Erfahrungen und projiziert diese auf zukünftige Situationen. Diese Projektionen sind oft mit Angst angefüllt, sie verschwenden unsere Energie und, wie wir alle wissen, „1. kommt es anders, 2. als man denkt“. Sobald der Tag beginnt, rasen die Gedanken – „was muss ich heute alles machen, was hat mich gestern geärgert“; viele Menschen werden noch durch nicht abzustellende Gedanken am Schlafen gehindert. Den wirklichen Augenblick, in dem wir gerade leben, nehmen wir nur sehr selten wahr, wir erleben ihn nicht unmittelbar. Wenn wir einmal wirklich im Augenblick sind, erleben wir das oft als Glücksgefühl. Manche Menschen können solche Augenblicke nur in Extremsituationen erleben, wie z.B. beim Bungee-Jumping, S-Bahnsurfen, etc. Doch nur in der Abwesenheit der lärmenden Gedanken, kann das entstehen, was mit Wu Wei gemeint ist, die Verbindung mit der inneren Stimme, die uns genau sagen kann, was in jedem Moment für uns das wirklich Richtige ist, ganz abgesehen von rein verstandes- und ego-orientierten Interessen. Damit soll aber nicht das Denken in seiner Gesamtheit verteufelt werden, klares Denken ist natürlich ebenfalls notwendig für uns, und zwar in den Situationen, in denen es gebraucht wird. Die ununterbrochene Geschwätzigkeit unseres Geistes hingegen ist ein Hindernis für das Leben in der Gegenwart, und der Kraft, die daraus geschöpft werden kann. Wie können wir das nun erreichen, dieses Leben in der Gegenwart, das Empfinden von Gelassenheit? Mit dieser Frage beschäftigen sich die Menschen schon seit Urzeiten. Es gibt zahlreiche Übungen und Techniken, die viele von Ihnen vielleicht schon kennen.
Wege dazu sind z.B. die Meditation, und, was ich persönlich leichter finde, das Praktizieren von Qi Gong. In der tiefen Konzentration auf die Bewegungsabläufe der Übungen und auf unsere Atmung fällt es relativ leicht, von unseren Gedanken loszulassen; man spürt direkt nach den Übungen eine innere Ruhe und Gelassenheit. Was auch relativ leicht in den Alltag zu integrieren ist, ist alleine in die Natur zu gehen, und zu versuchen, sie mit allen Sinnen wahrzunehmen. Z.B. den Boden unter den Füßen zu spüren, den Wind im Gesicht zu spüren, die Gerüche wahrzunehmen, das Rauschen der Blätter zu hören. Dabei kann man diese wohltuende Abwesenheit von Gedanken erleben. Ärgern Sie sich dabei nie, wenn immer wieder Gedanken in Ihren Kopf kommen. Der bewusste Versuch, auf keinen Fall zu denken ist auch wieder Denken. Wenn Gedanken kommen, betrachten Sie diese wertfrei und lassen Sie einfach wieder ziehen. Mit der Zeit geht dies immer leichter. Hilfreich für das Loslassen unserer Gedanken und Ängste ist auch eine Konzentration auf die Energiezentren der Nieren bzw. eine Behandlung der Akupunkturpunkte, die dort liegen. Da wären als erstes die Fußsohlen zu nennen, auf denen der erste Punkt des Nierenmeridians, Ni 1 liegt. Es beruhigt den Geist und erdet, wenn man seine Aufmerksamkeit auf die Fußsohlen richtet, beim Spazierengehen oder beim Qi Gong, effektiv ist es auch Ni 1 zu moxen oder zu akupressieren. Ein weiteres Energiezentrum der Nieren liegt im Bereich unter dem Bauchnabel, dem Dantian, dort liegen die Punkte KG 4-KG 6. Auch hier wird klassischer Weise die Aufmerksamkeit beim Qi Gong hingelenkt, was der inneren Sammlung dient. Bei der Akupunktur wird KG 4 u.a. dafür eingesetzt, den Yin-Aspekt des Willens und damit die Gelassenheit zu unterstützen. Nun komme ich zum Ende meines Vortrages und hoffe, dass ich den großen Bogen von der Angst zur Gelassenheit verständlich für Sie geschlagen habe und dass sowohl die Akupunkteure als auch die Laien etwas für sich mitnehmen können. Ich möchte meinen Vortrag schließen mit einer Passage aus dem Tao Te King, den Schriften Laotses, dem Begründer des Taoismus: Fülle deine Trinkschale bis zum Rand, und sie wird überlaufen. Schärfe dauernd dein Messer, und es wird stumpf werden. Jage Geld und Sicherheit nach, und dein Herz wird sich niemals öffnen. Sorge dich um den Beifall der Leute, und du wirst ihr Gefangener sein. Verrichte dein Werk, tritt dann zurück. Das ist der Weg der Gelassenheit. Literatur: Laotse – Tao Te King Theo Fischer – Wu Wei Theo Fischer – Yu Wei Klaus Dieter Platsch – Psychosomatik in der Chinesischen Medizin Klaus Dieter Platsch – Die fünf Wandlungsphasen Udo Lorenzen/Andreas Noll – Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin, Bd. 5, Wandlungsphase Wasser Andreas Noll/Barbara Kirschbaum - Stresskrankheiten
(Seite 1 von 1, insgesamt 1 Einträge)
|
Kalender
SucheKategorienBlog abonnierenVerwaltung des Blogs |